Benachteiligung Behinderter durch Staat und Gerichte



Ist es OK, wenn behinderte Menschen benachteiligt werden? Ist es OK, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung mehr zahlen müssen, als ein ganz normaler, gesunder Familienvater? Staat und Bundesverfassungsgericht sagen ja.

Ich hab da mal ne Frage. Irgendwie gibt es ja dann doch immer mal wieder Sachen, die ich einfach nicht verstehe. Heute ist es mal wieder so weit. Meine Freundin hat eine sehr interessante Frage in den Raum geworfen, während wir über gesellschaftlich-politische Fragen diskutiert haben.

Wir kamen irgendwie auf die Pflegeversicherung und darauf, dass ja Menschen über 23 einen höheren Beitrag zu zahlen haben, wenn sie keine Kinder haben. OK, das betrifft nur Arbeitnehmer, aber das sind auch Menschen.

Die Frage war nun, wie es denn mit Menschen sei, die keine Kinder bekommen können, die also zeugungsunfähig sind. Ich dachte mir nur: “Interessante Frage, hab ich ja noch nie daran gedacht.”

Wir neigen ja dazu, uns keine Gedanken zu machen, wenn uns die Dinge nicht direkt oder indirekt betreffen. Da ich selbst keine Kinder will, hab ich mich ja mit der “Strafsteuer” schon abgefunden.

Unfruchtbarkeit eine Behinderung?

Könnte es also sein, dass der Staat hier Menschen aufgrund einer körperlichen Benachteiligung (sozusagen Behinderung) benachteiligt?

Klar, bislang habe ich mich auch nie gefragt, ob Unfruchtbarkeit eine Behinderung sein könnte.

Das SG Marburg hat in einem Urteil von 2010 jedoch festgestellt:

[...] der Eintritt von Zeugungsunfähigkeit [führt] grundsätzlich nicht zur Feststellung einer Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts. Eine Ausnahme besteht bei Patienten im jüngeren Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch. Dabei ist auf den Zeitraum abzustellen, in dem Männer üblicherweise eine Vaterschaft anstreben. Das Gericht hält hier einen Spielraum bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres für vertretbar, solange die Partnerin, mit der der Kinderwunsch verwirklicht werden soll, das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hat

Somit ist ein zeugungsunfähiger Mann also schon mal im Topf. Da unser Grundgesetz eine Gleichberechtigung von Mann und Frau vorsieht, sollten wir hier die Geschlechter-Unterscheidung fallenlassen.

Ein biologisch-natürlich nicht erfüllbarer Kinderwunsch gilt also nach Gerichtsmeinung als Behinderung.

Das erkennt auch der Staat mittlerweile an, nachdem der der Bundesfinanzhof der Klage eines Ehepaars stattgegeben hatte. Sie hatten die Kosten von 21.345 Euro für eine In-vitro-Fertilisation als außergewöhnliche Belastung beim Finanzamt geltend gemacht. Denn:

Die Befruchtung der Ehefrau mit Fremdsamen sei eine medizinische Maßnahme, weil sie eine behinderte Körperfunktion des Ehemannes ersetze, heißt es in dem Urteil. Quelle

Ich bin ja nicht der erste, der sich mit dieser Frage beschäftigt.  Immerhin gibt es recht weit vorn im Grundgesetz eine entsprechende Aussage:

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. GG, Art. 3 (3)

Allerdings scheint das in anderem Zusammenhang, weder bei unseren Volksvertretern, noch beim Verfassungsgericht, bislang angekommen zu sein.

Behinderte dürfen gegenüber Vätern/Müttern benachteiligt werden

So stellt das Sozialgericht Münster 2006 schon fest:

Eine Ermäßigung des Beitragssatzes für Kinderlose ( insgesamt 1, 95 v. H.) aufgrund einer bestehenden Behinderung sähen die gesetzlichen Vorschriften nicht vor.

Ob die dem Beitragszuschlag zugrunde liegende Regelung des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes verfassungswidrig sei, könne dahinstehen, weil nur das Bundesverfassungsgericht ( BVerfG ) die Kompetenz habe, die Ungültigkeit der Vorschrift festzustellen.

Und wir reden nicht von irgendeiner Behinderung. Der Kläger war von Geburt an zeugungsunfähig. In meinem laienhaften Verständnis findet hier also eine Benachteiligung statt. Dennoch wurde die Klage abgewiesen. Der Kläger muss den höheren Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen.

Denn ein Verweisen der Fragestellung an das Bundesverfassungsgericht verweigerte das Sozialgericht mit einer Begründung, deren Logik auch nur Juristen verstehen können.

Die gesetzliche Änderung zum Beitrag der Pflegeversicherung kam zustande, weil das BVerfG geurteilt hatte, dass Eltern durch den gleichen Betrag wie Kinderlose benachteiligt werden. Und dabei habe das BVerfG dem Gesetzgeber einen großen Handlungsspielraum, bei der Ausgestaltung dieses Gesetzes, eingeräumt.

Es ist also, nach Auffassung der deutschen Gerichte, alles in bester Ordnung. 

Ich frage mich jetzt, ob es wirklich alles in Ordnung ist, wenn eine Ungerechtigkeit (gegenüber Eltern) dadurch beseitigt wird, dass eine andere Ungerechtigkeit (gegenüber durch Zeugungsunfähigkeit Behinderten) in ein Gesetz gegossen wird.

Die Logik verstehe ich einfach nicht. Gut, das mag daran liegen, dass mir die Logik der Bevorzugung von Eltern in unserem Staat sowieso nicht eingeht. Kinder zu kriegen (oder eben nicht) ist in meinen Augen noch immer eine persönliche Entscheidung. Klar ist mir bewusst, dass die armen kleinen, schreienden Fleischklopse auch irgendwann mal meine Rente, Pflege, etc zahlen werden. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass ich noch Rente bekomme. Da glaub ich ja nicht mehr dran.

OK: Unser Staat/unsere Gesellschaft will, dass Menschen Kinder in die Welt setzen. Auch klar, dass Kinder Geld kosten. Unser Staat gewährt Kinderfreibeträge, gibt Eltern- und Kindergeld und gibt Steuererleichterungen. OK, so weit so gut (auch wenn Kinder sicherlich teuer sind, als die Freibeträge).

Geht mir ja nix dabei verloren. Und selbst wenn (indirekt durch Steuern und so), muss ich halt als gesunder Mensch, der keinen Kinderwunsch hat, damit leben. Ist meine eigene Entscheidung und ich zahle den Preis sehr gerne dafür.

Aber wieso ist es dann OK, dass Menschen bestraft werden, die sich Kinder wünschen? Menschen, die gerne eigene Kinder hätten und nur durch eine Behinderung daran gehindert werden.

Irgendwie geht mir die Logik nicht ein. Irgendwie komme ich mir bei solchen Gedanken vor, als lebte ich in Schilda.

ps.: Wer Tippfehler findet, darf sie in meinem Rotweinglas ablegen. Oder beim nächsten Lottoschein verwenden.