Der Journaille falsche Welt



Und täglich grüßt das Murmeltier: Hey Baby, willst Du mal schlecken? Oder: Kiffen als Schulfach: Was meinen Sie? So, oder so ähnlich, springt uns täglich die Schlagzeile an. Doch ist die Welt der Journalisten auch die Welt, in der wir leben?

So kommt die Nachricht in die Zeitung

Es war einmal ein kleines Ereignis. Nichts großes, doch es betraf einen Titan der Musik, den Pop Titan. Dieser hatte sich den Fuß verstaucht. Etwas, das jeden Tag auch abertausend anderen passiert. Doch an diesem August-Tag im Sommerloch herrschte tote Hose. Und zufällig war ein Reporter der Nachrichtenagentur “Euter(s)” in der Nähe. Dieser hatte sich nämlich den Kopf angestoßen, war in die Notaufnahme gefahren und sah nun Dieter Bohlen auf Krücken hinken.

Also schrieb er eine kleine Meldung, tippte sie ins System und tat danach, was er sonst so tut. Die Meldung landete (mitsamt einem Bild) auf dem Tisch eines Redakteurs. Dieser sah, dass es gut war (da sonst nichts wichtiges passiert war) und er sendete sie über den Ticker nach draußen.

Denn immerhin hatte sich ja nicht Lischen Müller den Fuß verstaucht, sondern der Pop Titan. Das war natürlich etwas ganz anderes.

Denn wie hatte schon John B. Bogart, Lokalredakteur bei der “New York Sun” geschrieben:

„When a dog bites a man, that is not news, because it happens so often. But if a man bites a dog, that is news.“

Der Ticker, das ist sozusagen die Luft, die der Journalist zum atmen braucht. Hier findet er jede von der Agentur für halbwegs wichtig gehaltene Meldung.

Ein gelangweilter Schreiberling bei einer Tageszeitung, nennen wir sie “FOTO”, sah die Meldung im Ticker - und da er ja so tun wollte, als sei er wichtig, schrieb er noch fünf Worte dazu, rief bei Dieters Management an, um sich ein schönes Zitat dazu zu holen und gab sie an seinen Chef vom Dienst weiter. Der CvD hatte (noch immer war der Tag ruhig) sowieso gerade keine bessere “Nachricht” und so landete die Meldung ganz oben auf der Webseite der “FOTO”.

Dort wurde sie von einem Redakteur des Magazins “Reflektor” gefunden. Auch hier gab es gerade kein “Futter” für die Webseite. Und da die Meldung auch im Ticker von “Euter(s)” war, hatte sie ja das Siegel “glaubwürdig”. Auch lief gerade die neue Staffel von “Bayern sucht den Super-Melker” an, in dem der gute Dieter in der Jury saß. Also aktuell, mal was anderes, gerade nichts besseres da - und so landete die Meldung auch bei “Reflektor” ganz oben.

Da bei “FOTO” und “Reflektor” ganz oben, fingen all die anderen Schreiberlinge in anderen Redaktionen an, ihre CvDs mit dem Thema zu bombardieren. Und, weil bei den sogenannten Leitmedien (also den Lemmingen, die immer vorne weg rennen) ganz oben, nahmen diese CvDs ihren Job ernst - und warfen die Meldung auf den eigenen Webseiten auch nach oben (oder in die Fernsehnachrichten/Radionachrichten). Natürlich ohne sie nochmals zu prüfen.

Inzwischen war es kurz vor 12 Uhr am Mittag. Die Schreiberlinge der Agentur “Deutsche Journaille Agentur” machten ihr mittägliches “Medienmonitoring”. Da schauen Sie, welche Themen wohl wichtig sind, indem sie schauen, über was die anderen so schreiben (und wo sie es auf den Webseiten stehen haben).

Dort konnten sie sehen, das die Meldung über Dieters Fuß bei allen ganz weit oben war. Die Meldung musste also wichtig sein. Daher wurde die Meldung von der “dja” aufgegriffen - und an alle Kunden weiterverteilt, die für ihre Webseiten diese Meldungen automatisch abonniert hatten. So landete Dieters Fuß dann schließlich auf so Seiten wie “wed.de” oder “gmy.de”. Dort wollen die Leute eigentlich nur ihre Mails lesen, bekommen aber auch (mehr oder weniger interessante) Nachrichten serviert*.

So kam es, dass der Fuß des Pop Titan zur Meldung des Tages wurde. Auch nicht weniger interessant, als der sprichwörtliche “Sack Reis”.

“Journalismus besteht hauptsächlich darin, Leuten zu erzählen ‘Lord Jones ist gestorben’, die vorher nicht einmal wussten, dass Lord Jones überhaupt je gelebt hat.” Gilbert Keith Chesterton, engl. Kriminalschriftsteller

Die Nachrichten-Kriterien

Diese Meldung erfüllte auch alle sogenannten Nachrichten-Kriterien. Nur was diese Filter passiert, das kommt auch in die Zeitung/auf die Webseite/in die Fernseh-Nachrichten.

Und diese Filter, die die Qualität und Relevanz sicherstellen sollen, wurden gleich mehrfach hintereinander geschaltet:
Es ist aktuell, weil erst heute passiert. Die Nähe ist dadurch gegeben, dass sich jeder dem Dieter nahe fühlt. Er ist immerhin der “Pop Titan der Deutschen”. Und wie dramatisch es war, bis der arme Dieter in der Notaufnahme war. Sein Management hatte extra betont, wie schmerzhaft dieses Unglück für den armen Mann war. Prominent ist er ja und Schmerzen tun weh, sind also Gefühle. Und so erfüllte diese “Nachricht” alle Kriterien. Egal, ober bei "Euter(s)", "FOTO" oder "Reflektor".

Und natürlich hat jeder Schreiberling, Redakteur und CvD in dieser langen Kette immer wieder geprüft, ob die Kriterien erfüllt sind. Und sicherlich spiele niemals nicht eine Rolle, dass an diesem Tag aber auch so gar nichts passiert ist. Oder gar, dass man (im Netz) Klicks braucht, um Werbung zu verkaufen, also dass die Notwendigkeit gegeben ist, dass immer irgendwas passieren muss.
Nein, jeder hat seinen grundgesetzlich geschützten Job total ernst genommen (und außerdem wollen die Leute sowas ja lesen).

Doch was ist mit der Lebenswirklichkeit der Menschen, wenn es um andere Themen geht? Was ist mit dem Weltbild/und der Welt-Wahrnehmung, wenn sie durch den Journalismus geprägt wird?

Neutral, objektiv und frei

Journalisten berichten neutral und objektiv über das was so passiert in der Welt. So oder so ähnlich haben es mir die Gesellschaftskunde-Lehrer vor langer Zeit beigebracht. Und so sehen viele Journalisten sich selbst und ihre Job. Denn sie und ihr Berufsstand sind besonders geschützt:

“Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.” Art. 5 GG

Journalismus, vom Grundgesetz besonders geschützt, ist also ein reales Abbild unserer Welt? Die Schreiberlinge zeigen uns nur, was auch tatsächlich passiert? Nein. Das System des Journalismus, die Notwendigkeit damit Geld zu verdienen (um Schreiberlinge, Redakteure, Grafiker, Vorstände, Aktionäre zu "bezahlen"), verhindert in sich schon, dass ein realistisches Abbild möglich wäre.

Außerdem ist da noch der Leser - und der ist das eigentliche Problem. So fällt es diesem nämlich überhaupt nicht ein, gute Nachrichten zu kaufen. Oder auch nur ein: “Es ist nichts passiert”, mit seiner werbe-wertvollen Aufmerksamkeit zu belohnen. Oder würdest Du eine BILD"FOTO" oder einen Spiegel"Reflektor" kaufen, wenn alle Seiten leer wären und die einzige Schlagzeile lautet: “Schlaft ruhig, es ist nichts passiert!”?

Die Wirklichkeit und die Journaille

Wir haben also gesehen, dass die sogenannten Nachrichten-Kriterien nicht unbedingt dabei helfen, ein Abbild der Wirklichkeit im Journalismus zu erzeugen. Im Gegenteil: Sie sind die Ursache eines noch grundsätzlicheren Problems.

Sie sind diese Faktoren, die zu selektiver Wahrnehmung (nicht nur bei den Schreiberlingen) führen. Für die Blattmacher/Medienschaffenden sind natürlich die Erfolgskennzahlen der Meldungen ebenso ein Filter - was läuft wie warme Semmeln, das macht man wieder. Die Ladenhüter lässt man sein. Egal, ob letzteres vielleicht “wichtiger” wäre.

Doch auch beim Leser sorgen die Nachrichten-Faktoren für eine verschobene Weltwahrnehmung.

Nehmen wir ein recht konkretes Beispiel:

Viele Mütter in meinem Umfeld sagen, dass sie heute mehr Angst um ihre Kinder haben, als früher. Früher hätte es diese Masse an Missbrauch, Entführung, und so weiter nicht gegeben. Heute wäre die Welt für die armen kleinen Mädchen und Jungs sehr viel gefährlicher geworden.

Doch ist dem tatsächlich so?

Am 18. Oktober hat das Bundesministerium für Forschung und Bildung, zusammen mit dem Kriminilogischen Forschungsinstitut Niedersachsen die ersten Ergebnisse einer Langzeitstudie vorgestellt.

"Im Vergleich zu der Situation vor fast 20 Jahren ist ein deutlicher Rückgang bei Fällen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen", erklärt Bundesbildungsministerin Schavan. Zum Teil sind die Übergriffe um ein Viertel gesunken, in den vergangenen 20 Jahren. Zugleich steigt jedoch die gefühlte Gefährdung in unserer Welt immer weiter an.

Wenn ihr in Eurem Umfeld mal rumfragt, ob es für Kinder/Jugendliche heute gefährlicher ist, als vor 20 Jahren, werdet Ihr sehen, dass die meisten Menschen die heutige Gesellschaft für gefährlicher halten.

Immerhin wird mehr über Kindesmissbrauch geschrieben/berichtet, als je zuvor. Und der Mensch neigt, aufgrund seiner Psyche, nun einmal dazu, von “öfter gelesen” auf “öfter passiert” zu schließen.

Um es "korrekter" zu sagen, der Mensch nutzt intuitiv im Hirn gewisse Abkürzungen (Heuristiken), um im Fall von Unsicherheit zu einem zügigen Ergebnis zu kommen. Dinge, an die man sich leichter erinnern kann, sorgen dann beispielsweise dafür, dass man solche Ereignisse/Verbrechen als häufiger/wahrscheinlicher einschätzt. Das ganze nennt sich Verfügbarkeitsheuristik.

Ein recht unschöner Zustand, den die Art und Weise der Berichterstattung, Umgang und Auswahl der Themen durch die Journalie, sowie die werbegetriebene Klickhysterie sogar noch verschlimmern. Denn mit jeder neuen Horrormeldung, verstärkt sich diese Heuristik, weil man sich besser an derartige Meldungen erinnert.

Um es klar zu sagen: Ich bin für einen Journalismus, der diese Bezeichnung verdient. Ich bin dafür, dass über solche Themen gesprochen wird. Im Gegenteil, es müsste noch viel mehr darüber geschrieben/gesprochen werden. Allerdings nicht unbedingt so, wie das heute passiert.

Heute sind “Perverses Vergewaltiger-Schwein vor Gericht”, oder “Dieses Schwein wollte fünf Menschen töten” zulässige und gern gelesene Schlagzeilen, wie sie tagtäglich in der FOTO erscheinen könnten.

Vergewaltigung der Opfer

Bei solchen Schlagzeilen interessiert jedoch das Opfer meist nicht als Mensch, sondern rein als legitimierende Funktion. Es ist der notwendige Statist für diese Meldung. Das Opfer derartiger Gewalttäter wird zum "Red Shirt" für den Bericht, ohne den das Ereignis, somit auch nicht die “Nachricht” und somit vor allem nicht Auflage/Klickzahlen geschehen könnten. Und somit schließlich der kommerzielle Erfolg der Zeitung.

Das Opfer wird also nicht nur vom Täter entwürdigt/gedemütigt/verletzt/getötet. Es wird auch von dieser Art der Berichterstattung entmenschlicht/objektifiziert/austauschbar gemacht. Diese Berichterstattung ist zwangsläufig auf die möglichst hohe Grausamkeit von Taten angewiesen, um ihren innersten Auftrag (Geld verdienen) zu erfüllen.

Die Opfer sind dabei, wie gesehen, nur als strukturelle Funktion notwendig. Das individuelle Schicksal ist unwichtig, austauschbar und in vielen Fällen auch einfach eher störend, weil komplex. Hauptsache ich habe ein paar schöne Tränen der Hinterbliebenen, vielleicht gemischt mit dem Wunsch nach Rache... Das wäre das i-Tüpfelchen.

“Nähme man den Zeitungen ihren Fettdruck, um wieviel stiller wäre es auf der Welt. “ Kurt Tucholsky

Die selektive  Wahrnehmung formt das Weltbild, das aufgrund eines andere psychologischen Effekts, zugleich noch verstärkt wird. Der Mensch ist so gestrickt, dass er eher nach Bestätigung für einen Gedanken/eine Annahme sucht, als nach Widerlegung. Diesen Effekt nennt man Bestätigungfehler.

Und so sorgt das täglich grüßende Murmeltier Names “Journaille” in einem sich selbst verstärkenden System dafür, dass die Welt des Journalismus nichts mehr mit der Welt da draußen vor dem Fenster zu tun hat.

Ein neuer Journalismus?

Die Nachrichten in den Presse-Organen sind also sehr oft nur noch Zeichen, die auf keine Referenten verweisen. Doch wenn dem so ist, welcher Stellenwert sollte diesem Journalismus eigentlich zugestanden werden? Und wie könnte ein Journalismus aussehen, der den grundgesetzlich geschützten Status in einer demokratischen Gesellschaft verdient hat?

Kann ein “guter Journalismus” vielleicht nur dort funktionieren, wo er keinen kommerziellen Einflüssen und Notwendigkeiten ausgeliefert ist, wo er aber zugleich auch keinen politischen Interessen und Verknüpfungen unterworfen ist? Und wie könnte so ein Journalismus funktionieren? Wie könnten Korrespondenten, Redakteure, Grafiker, Schreiber, externe Autoren, Fotografen, Gebäude, Druckpressen, etc. bezahlt werden, wenn man den Journalismus aus dem kommerziellen Rahmen nimmt?

Bekanntmachung: Ich arbeite selbst bei einem Unternehmen, dass eine derartige Webseite betreibt. Außerdem besitze ich auch einen Presseausweis.