Fiktion: Dystopische Zukunft



Schon seltsam, wie einem das Leben so spielt. Vor kurzem noch war ich ein braves Mitglied der Gesellschaft, ein unbescholtener Bürger. Jetzt sitze ich hier, in meiner dunklen Zelle und warte darauf, dass der Morgen kommt. Vielleicht mein letzter. Immerhin stehe ich dann vor Gericht, wegen Häresie und Heterodoxie. Aber dazu komme ich gleich.

Rückblick aus der Zelle

Lass mich zuerst ein paar Worte über mich sagen. Mein Name ist Lanier Nelson und ich lebe im Deutschland des Jahres 2073. Verurteilt werde ich, weil ich Bücher liebe. Und weil ich anderer Meinung bin, als unsere Heilige Schrift, das ALLWIKI. Dabei sehe ich auf den ersten Blick aus, wie ein typischer Vertreter meiner Generation.

Ich trage die Aug-Gläser über den Augen, kleine, transparente Bildschirme, die mir zu allem und jedem die verfügbaren Informationen anzeigen und über die ich jeden meiner Freunde erreichen kann. Momentan bin ich jedoch offline - so ist das nun einmal, wenn man in der Zelle sitzt und abgeschirmt ist.

Und doch, obwohl ich ohne Bücher aufgewachsen bin, nur im Umfeld digitaler Medien erzogen wurde und von klein auf gelernt habe, welch Sünde es ist Papier mit Tinte zu verschwenden, habe ich gelernt Bücher zu lieben. Das Gefühl, wenn meine Finger über die bedruckten Seiten streichen, wenn meine Augen die Worte aufsaugen, die auch morgen noch genau so auf den Seiten stehen werden - unverändert und dauerhaft.

Diese Beständigkeit und die Ruhe, die sie mir vermittelt, all das fand ich in einem Buch. In einem gedruckten Buch.

Bibliophile, so werden wir genannt. Und wenn man im ALLWIKI unter diesem Begriff nachschlägt, wird man schnell sehen, dass wir nicht gerade beliebt sind. Kritisch beäugt, vom Ministerium zum Schutz unseres Wissens, beobachtet und überwacht, versuchen wir meist unsere Leidenschaft geheim zu halten. Doch genau das macht uns nur noch verdächtiger.

Immerhin gelten die Transparenzgesetze, die 2024 von der damals herrschenden Piratenpartei eingeführt wurden. Transparenz gilt als Grundpflicht eines jeden Bürgers. Denn die Möglichkeit zur freien Meinungsbildung über andere gilt nicht nur als Grundrecht, sondern ist Grundpfeiler unserer heutigen, fortschrittlichen Gesellschaft.

Die transparente Gesellschaft

§ 5c GG:

Jeder Mensch hat das Recht sich frei und unbeeinflusst, ohne Täuschung über andere zu informieren, um sich ein vollständiges und unbeeinflusstes Bild zu machen.

Daraus leitet sich zwangsläufig die Pflicht eines jeden Bürgers ab, aktiv alles über sich Preis zu geben. Denn kein Geheimnis darf zwischen Dir und dem Bild anderer von Dir stehen. Keine Täuschung ist erlaubt. So funktioniert unsere Gesellschaft aus nackter, hässlicher Ehrlichkeit.

Zumindest in der Theorie. Schon immer gab es diejenigen, die gleicher waren. Diejenigen, die ein gesamt-gesellschaftliches Interesse besitzen, sich dem persönlichen Transparenz-Gebot zu entziehen.

§5d GG:

Der Staat hat das Recht, seine Diener vor unberechtigter Verfolgung und Denunziation zu schützen.

Ein Beispiel für mein transparentes Leben? Meine Inhaftierung auch auf meinem Facebook-Profil veröffentlicht. Als Hinweis, den man erst wegklicken muss, sichtbar für all meine Freunde. Auch mein vergehen wurde in allen Einzelheiten beschrieben. Gut, andererseits nutzt heute kaum noch jemand Facebook. Diese Plattform der frühen 2000er Jahre ist eigentlich nur noch von Nostalgikern und Spambots bevölkert.

Vergehen Bibliophilie

Aber nun zu meinem Vergehen Häresie und Heterodoxie. Mein Job ist der eines Räumers. Die Hinterlassenschaften der alten Menschen, all die Dinge, die keiner mehr haben will, werden von mir aus ihren Häusern und Wohnungen gebracht und dem Recycling zugeführt. Nichts wird dauerhaft weggeschmissen. Dafür sind unsere Ressourcen zu wertvoll.

Doch eines Tages entdeckte ich eine Kiste voller Bücher. Zuerst erschienen sie mir veraltet, unnütz. Ich hatte doch alle Bücher durch meine Aug-Gläser sofort vor Augen, wenn ich das wollte. Musste sie nicht erst in einer Kiste suchen. Außerdem konnte ich mir alte Worte sofort erklären, übersetzen lassen, ohne in einem anderen Buch nachschlagen zu müssen.

Und ich wunderte mich, wie man mit Büchern Geld verdienen will. Nirgends fand ich Werbung auf den Seiten. Nur Text und ab und zu mal einen Bildband voller verblasster Photos.

Und doch, irgendetwas an den ersten Sätzen hielt mich fest:

‘Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.’

Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Dieses Ding aus Papier in meinen Händen, so fremd und abstoßend es für mich, ein Kind des Jahres 2046 auch war, hielt mich fest, legte seinen Arm um mich und zeigte mir das Tor zu einer anderen Welt.

Früher oder später erkannten auch meine Kreise (also die Menschen, mit denen ich mehr oder weniger oft kommunizierte), dass irgendetwas anders war. Sie sahen weniger automatische Updates aus meinem Lese-Stream. Ein Buch kann eben nicht automatisiert (mit)teilen, was ich gerade gelesen habe.

Und ich wurde verschwiegener, denn Bilbliothpilie galt als unschön in unserer Gesellschaft. Und ich wollte nicht, dass sich meine Freunde von mir abwendeten.

Ja, ich verstieß damit gegen das Grundgesetz, indem ich vermied zu bekennen, dass ich ein Buch gelesen hatte, dass ich ein Bilbiophiler bin. Und ich dachte mehr nach. War weniger direkt bereit, all das zu akzeptieren, dass beispielsweise täglich in der FOTO geschrieben stand.

Ich fragte, versuchte zu ergründen, ob vielleicht hinter den Gesichtern der Menschen noch etwas mehr steckte, als in ihren automatischen Profilen zu lesen. Und ich fing an (auch laut) darüber nachzudenken, ob die Verpflichtung zur Transparenz nicht auch Nachteile hätte.

Doch schon diese Aussage galt meinen Freunden und Kontakten als undenkbar. Niemand hatte sich diese Frage jemals gestellt. Es war so, als wäre ein Fremder in die Stadt gekommen, jemand, den keiner kannte und niemand einzuschätzen wusste.

Nein, zu Wissen, dass jeder alles über Dich weiß, so sagten sie schnell, hätte dafür gesorgt, dass kaum mehr ein Mensch willig sei zu lügen, zu stehlen oder sonst ein Verbrechen zu begehen. Die Gesellschaft sei friedlicher und ruhiger geworden. Das Transparenzgebot habe uns zu besseren Menschen gemacht.

Meine Erwiderung, dass die Gesellschaft freier von Abweichlern und Andersdenkern sei, wurde bestätigt und für gut befunden. Man müsse sich heute nicht mehr mit Menschen auseinandersetzen, die die Dinge anders sehen, hieß es.

Nun, da ich selbst in der Rolle eines derartigen Abweichlers bin, haben sie sich natürlich von mir losgesagt. Ich bin krank, wohl mehr als nur ein bisschen wirr im Kopf. Hoffentlich nicht ansteckend, aber zur Sicherheit sollte ich wohl doch ins Institut stecken, damit mein Gehirn überprüft und wieder geheilt werden könne - sagen sie.

Es kann auch sein, dass ich morgen schon nicht mehr bin. Immerhin steht auf öffentliche Heterodoxie im schlimmsten Fall die Todesstrafe. Zumindest, wenn mein Reden andere Menschen negativ beeinflusst hat. Dies lässt sich heute ja schnell aus dem sozialen Graphen erkennen.

Jetzt, da ich in dieser Zelle sitze, der Mond durch die Scheibe blickt und die Nacht vor meinem Prozess so ruhig ist, frage ich mich, ob das alles so richtig war?

Hat die Masse Recht?

Vielleicht haben meine Freunde Recht. Vielleicht ist unsere Gesellschaft besser, seit wir alles über jeden wissen können. Seit wir nichts mehr verheimlichen dürfen. Nach nur zwei Generationen, gibt es kaum noch Betrug, kaum Streit und keine Lügen mehr. Verbrechen aus Leidenschaft oder niederen Motiven gehören einer längst verschwundenen und fast vergessenen Vergangenheit an.

Auch Neid ist uns fremd. Immerhin wissen wir genau, wie viel Gehalt unsere Freunde, unsere Nachbarn erhalten. Und ob sie es verdient haben. Schnell führte die öffentliche Beschämung dazu, dass niemand mehr Lohn bekommen wollte, als er verdienen sollte. Die Produktivität pro Gehaltseinheit stieg enorm.

Auch wer zu wenig leistet war schnell bekannt und auch hier griff die Scham. Schnell füllten sich die Arbeitszeit-Konten. Heute leisteten alle ihren gerechten Beitrag zur Gesellschaft. Niemand will als Schmarotzer gelten.

Auch Wahlen wurden so viel einfacher. Jeder wusste, was der andere wählen würde, auch unsere Politiker. Also wurden erst die Wahlkämpfe und schließlich die Wahlen überflüssig. Denn die Politiker konnten schon vorher ihre Ideen und Forderungen am Willen der Mehrheit ausrichten. So würde unsere Demokratie effizient, hieß es. Schnell bildete sich die Transparente Einheitspartei - die TEP. Sie stellt seither stets Kanzler, Präsident und die Minister.

Skandale, Bereicherungen durch Politiker, all so etwas gab es seither auch nicht mehr. Wir sind alle transparent und niemand zweifelt mehr daran, dass die Aussagen eines anderen Menschen die Wahrheit sind. Niemand zweifelt mehr an unseren Politikern und so können sie sich ohne öffentliche Ablenkung auf ihre Arbeit konzentrieren.

Die Politiker können zum Wohl des Volkes entscheiden, was das Beste für uns ist. Niemand kann sich vorstellen, dass der Staat §5d GG missbrauchen würde, denn das würde gegen das Grundgesetz verstoßen. Freunde lügen sich nicht mehr an und Menschen werden nicht mehr von anderen unerwartet enttäuscht.

Ja, ich glaube, meine Freunde und meine Familie hatten doch Recht. Ich war auf dem falschen Weg. Unsere Gesellschaft ist deutlich reifer, seit es die Transparenzgesetze gibt.