Individuelle Rationalität - gesellschaftlicher Kollaps



Ein Blick auf Corona und die Frage, wieso Menschen so vermeintlich dumm handeln. Sind die wirklich so doof? Oder steckt vielleicht mehr dahinter?

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Wenn ein Chat zum Essay wird

Eigentlich wollte ich nur auf einen Link antworten, den mir eine gute Freundin geschickt hatte. Und ich hatte in einem anderen Chat schon die Spieltheorie erwähnt. Beim Schreiben merkte ich, dass das echt ein Posting hier sein könnte - also kommt hier nun mein Kommentar als Essay:

Die Spieltheorie und die Tragödie der Allmende

Wir fragen uns ja, wieso so viele Menschen sich wie egoistische Arschlöcher verhalten, wenn man doch genau sehen kann, dass demnächst (oder eben aktuell) alles an die Wand fährt. Wieso sind in Zeiten von Corona die Menschen so dumm, tragen keine Masken, veranstalten 600-Personen Fetisch Partys ohne Ab- und Anstand und machen sonst irgendwelche total bescheuerten Dinge, die die Ausbreitung des Virus massiv beschleunigen?

Sind wirklich so viele Menschen so dumm? Oder so egoistisch?

Ich liebe für solche Fragestellungen ja die Spieltheorie als gedankliches Framework (ich weiß - Denglisch ist die Sprache der Dummen). Im Grunde handelt es sich bei dem Thema "Wer hält sich (nicht) an die Regeln" um ein klassisches Allmendeproblem (wie die Überfischung, Rasen auf der Autobahn oder der allgemeine Ressoucenverbrauch der Menschheit).

Denn in der Selbstwahrnehmung der Leute liegt es ja nie an den Handlungen des Einzelnen (was rational betrachtet sogar stimmt). Der Einfluss der jeweils einzelnen Person und ihres Handelns ist eher gering. Wenn alle anderen sich dranhalten würden, würde dieser Einzelfall nicht ins Gewicht fallen.

Wenn alle eine Maske tragen ist ein einzelner kein Problem.

Aber wie bei der genannten Überfischung hält sich ja eben nicht nur ein einzelner Idiot nicht dran. Weil es die anderen sich auch nicht tun denken sich viele, wieso sollten sie sich dann dann an die Regeln halten? Und genau damit haben sie (wie ich gleich zeige) rational völlig recht. Nur wird jedes Thema damit zu einem sich selbst verstärkenden Problem.

Die Spieltheorie zeigt jedoch, dass derartiges Verhalten individuell betrachtet, also aus Sicht des jeweiligen Akteurs die rationale (also im Fachsprech dominante) Strategie ist. Denn nur genauso überwiegt der persönliche, individuelle Nutzen die persönlichen Nachteile. Und wenn man vom Menschen als einem Nutzenoptimierer ausgeht ist genau das das Ziel jedes Menschlichen Handelns.

Das Problem hier ist eben, dass vor allem, dass die meisten Nachteile die Gesellschaft tragen muss. Es handelt sich um klassische Externalitäten, die in den meisten Fällen in das Handeln der Akteure nicht eingepreist sind/werden.

Ergo ist die dominante Strategie auch genau die richtige (aus Sicht der Akteure) und zwar nicht nur bis der endgültige Crash kommt. Sondern gerade, weil jeder den Crash vorhersehen kann.

Denn genau dieser würde ja auch kommen, wenn man sich als Einzelperson an die Regeln hielte. Oder eben nicht die Meere über die eigenen Quoten hinaus abfischen würde. Nur hätte man bis zum unvermeidlichen Crash dann persönlich als Akteur gerade keine Vorteile gehabt. Müsste aber alle Nachteile des Crashs trotzdem voll mittragen.

Ergo ist der Egoismus an der Stelle die dominante Strategie und leider auch vollkommen rational. Zumindest aus Sicht des jeweiligen Akteurs. Bei der Tragödie der Allmende zeigt sich, dass individuell rationales Verhalten für die Gesellschaft echt scheiße sein kann.

Was tun?

Nun. Hier wird es schwieriger. Die Analyse und Herleitung der Rationalität des individuellen Handelns ist leicht. Im Grunde ist auch die Handlungsanweisung leicht, die sich daraus ergibt:

Man muss “einfach” das Spiel ändern.

Nur was bedeutet das? Und wie macht man das? Hier kommen wir schnell in den Bereich der Ideologie. Denn je nach persönlichem Wertekanon können die Ideen, wie man ein Spiel ändern sollte, schnell völlig anders aussehen.

Nehmen wir Corona als Beispiel. Man könnte es handhaben wie China (hier nur ein nicht repräsentatives Beispiel):

Die haben bei einer Routinekontrolle einen asymptomatischen Fall von COVID-19 gefunden und daraufhin 4,8 Millionen Einwohner durchgetestet. Innerhalb von 48 Stunden lagen die ersten rund 2,5 Millionen, weitere 24 Stunden später alle Testergebnisse vor und sie haben alle Infizierten in Quarantäne gesteckt. So scheinen sie recht effektiv die Ausbreitung massiv verhindert zu haben.

Ich möchte nicht wissen unter welchen Bedingungen die Tests durchgeführt wurden. Oder unter welchem Druck und mit welchen Arbeitszeiten in den Laboren die Auswertungen stattfinden. Arbeitsschutz und so spielt in China bei sowas glaube ich eine sehr untergeordnete Rolle.

Ein anderes Beispiel wäre das sogenannte Gefangenendilemma. Hierbei geht es darum, dass im Grunde die dominante Strategie im Fall des Beispiels ist, den ebenfalls von der Polizei verhafteten Mittäter zu verraten. Weil immer derjenige eine Hafterleichterung bekommt, der zuerst den Deal annimmt und den anderen verrät. Damit wird Verrat zur rationalen Handlung.

Was bedeutet es das Spiel zu ändern in diesem Fall. Nun - man kann es wie die Mafia machen und Omertà einführen. Wer einen anderen Verrät weiß, dass er dies nicht überleben wird. Und vielleicht auch seine Liebsten nicht. Die Folgen von Verrat sind also so drastisch schlimmer geworden, dass es sich nicht mehr lohnt. Verrat ist nicht mehr die dominante Strategie.

Im Gegenteil es wird sogar zur dominanten Strategie zu schweigen, wenn man fälschlicherweise verdächtigt wird, weil man sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, dass man gegen Omertà verstoßen hat.

Übertragen auf Corona

Dies könnte also bedeuten, dass man einerseits als Staat die Option hätte das Testgeschehen deutlich zu verändern. Wenn man mit umfänglichen Massentests die infizierten Personen sehr früh identifizieren und dann in Quarantäne stecken kann, kann der Rest der Gesellschaft so weiterleben wie bisher auch. Man hätte als Staat also das Spielfeld an sich geändert und damit würde das Verhalten der Menschen weniger Auswirkungen haben.

Oder man steigert das Maß der Kontrolle und die Strafen so sehr, dass sich Egoismus als Strategie nicht mehr lohnt. Wenn es extrem wahrscheinlich ist, dass ich bei Verstößen erwischt werde und für Verstöße gegen geltende Corona-Regeln für einige Monate/Jahre ins Gefängnis muss (und außerdem sehr, sehr hohe Geldstrafen bezahlen muss), dann wäre die Quote der Maßnahmenverweigerer deutlich geringer.

Oder anders gesagt: Wenn ein Coronamaßnahmen-Verweigerer sofort vor Ort standrechtlich erschossen wird, wie ein Deserteur im Krieg, dann wird es weniger Maßnahmenverweigerer geben.

Bitte nicht falsch verstehe - ich plädiere hier nicht für die standrechtliche Erschießung. Obwohl…
… das wäre zumindest effektiv. Kann man nicht ganz von der Hand weisen. Unser körpereigenes Immunsystem macht ja mit mutierten Zellen auch recht kurzen Prozess. Könnte man auch auf die Gesellschaft übertragen.

So aber nun genug meiner Gewaltphantasien. Zurück zur Realität. Natürlich bin ich gegen die Corona-Todesstrafe. Auch wenn die Gewaltphantasien bei den Idioten da draußen vielleicht sogar verständlich wären.

Aber eine deutliche Verschärfung der Strafen. Eine sehr viel weiter ausgebaute Kontrolle und zusätzlich ein viel umfänglicheres und schnelleres Testgeschehen. Das würde vermutlich schon zu einer viel entspannteren Situation für den größten Teil der Bevölkerung führen.

Und Theater, Museen, Restaurants und andere Einrichtungen könnten weiterhin geöffnet haben - solange die entsprechenden Hygienekonzepte sinnvoll vorliegen und eingehalten werden.

Und wer als Unternehmen zulässt, dass dagegen verstoßen wird, dem drohen entsprechend auch heftige Folgen.

Einfach ist das nicht - aber es wäre ein Ansatz um das Spiel zu verändern.

Die aktuellen Maßnahmen

Die aktuellen Maßnahmen sind übrigens natürlich auch ein Versuch das Spiel zu ändern. Es ist eben eine andere Ideologie, die hier politisches Handeln bestimmt. Vielleicht ist es sogar eine deutlich freiheitlichere, demokratischere Ideologie, als diejenige die ich nutzen würde.

Bei mir wäre es ein viel stärkerer Überwachungsstaat, der notwendig wäre. Unsere Regierung schränkt die Freiheit anderweitig ein - und setzt dabei auf weniger Überwachung.

Nicht rational, sondern ideologisch

Und genau da liegt die Crux. Jede Maßnahme, die man trifft um das Spiel zu verändern kann nur bis zu einem gewissen Maß auf reinen Fakten beruhen (allein schon, weil wir nicht alles wissen). Der Rest muss auf einer wie auch immer gearteten Ideologie basieren.

Und über die ließe sich trefflich streiten.

Bleibt gesund

Und damit schließe ich. Nehmt meine Beispiele nicht unbedingt als Ausdruck meiner Ideologie oder meines Frustes über die Covidioten. Nehmt sie als Beispiele und denkt selbst darüber nach, wie unterschiedlich Maßnahmen aussehen könnten - je nach zugrunde liegender Ideologie.

Und vor allem: Bleibt gesund!