Die letzte Ausgabe: Datenfutter statt Dorfgeschichten
Der Nieselregen klopfte leise an die Fensterscheiben vom "Alten Hafen", einer urigen Kneipe direkt am Flensburger Hafen.
Prolog: Frühschoppen in Flensburg, Frühjahr 2028
Jens Petersen wischte sich den Schaum von seinem gepflegten grauen Schnurrbart und stellte das Flensburger Pilsner zurück auf den Bierdeckel. Sein Gegenüber, Hauke Brodersen, sah aus, als hätte er in den letzten Wochen kaum ein Auge zugemacht.
"Is' es nu endgültig vorbei mit Küstenblick.sh?" Jens musterte den ehemaligen Lokalredakteur mit einer Mischung aus Mitgefühl und Unverständnis.
Hauke nickte langsam. "Jo, gestern Abend haben wir die Server abgeschaltet. Dreizehn Jahre... einfach futsch." Er hielt sein Bier gegen das trübe Licht, das durch die Fensterscheiben fiel. "Als wir 2015 anfingen, dachte ich wirklich, wir könnten hier oben an der Küste was bewegen. 'Ne digitale Heimat schaffen."
Jens schnaubte. "Habt ihr definitiv. Ohne euren Artikel über die Grundwasserbelastung durch die neue Fabrik hätte keiner aufgehorcht. Und mein Hof wäre heute wohl verseucht."
"Komisch, dass du ausgerechnet diesen Artikel erwähnst," Hauke lächelte bitter. "Genau solche Recherchen können wir uns seit zwei Jahren nicht mehr leisten. Erst gingen die Klicks zurück, dann die Werbeeinnahmen, dann die Abonnenten."
"Aber warum eigentlich? Ich kapier das nicht. Die Leute interessieren sich doch nicht weniger für die Region, oder?"
Hauke zog sein Smartphone hervor. "Pass auf. Wenn ich nach 'Grundwasserqualität Schleswig' frage..."
Er tippte die Frage ein und drehte das Display zu Jens. Eine KI-generierte Antwort erschien sofort oben in den Suchergebnissen: Eine perfekt formulierte Zusammenfassung, mit aktuellen Daten und sogar einer kleinen Grafik.
"Siehst du? Keiner muss mehr auf unsere Seite klicken. Die Antwort steht direkt da. Was du nicht siehst: Diese Zusammenfassung basiert auf einem Artikel, den Lena letzten Monat für uns recherchiert hat. Drei Wochen Arbeit, Akteneinsicht, Interviews mit Experten. Bezahlt haben wir sie kaum noch dafür."
Jens runzelte die Stirn. "Aber dann steht doch bestimmt ein Link zu eurer Seite dabei, oder?"
"Manchmal. Ganz unten. Aber wer klickt schon, wenn man alles Wichtige schon serviert bekommen hat? Unsere Zugriffszahlen sind um 80 Prozent eingebrochen in den letzten drei Jahren."
Der Landwirt nahm einen Schluck und schüttelte ungläubig den Kopf. "Und was ist mit meinem Bio-Hofladen? Ich habe doch immer bei euch inseriert..."
Hauke lachte trocken. "Frag dein Smartphone mal nach 'Bio-Produkte regional Flensburg'."
Jens zog zögernd sein altes Handy aus der Jacke und tippte umständlich. Was er sah, ließ ihn erblassen.
"'Entdecken Sie regionale Bio-Produkte bei EDEKA, REWE und im BioMarkt Flensburg'... und dann kommen die großen Höfe aus dem Umland. Mein Hof taucht gar nicht auf!"
"Die KI bevorzugt, was viele Leute kennen und was gut vernetzt ist. Die Algorithmen verstärken, was ohnehin schon stark ist." Hauke rieb sich müde die Augen. "Ohne Küstenblick.sh ist dein Hof digital praktisch unsichtbar geworden."
"Aber die Leute kennen mich doch! Ich bin seit vierzig Jahren hier!"
"Die Älteren ja. Aber die Zugezogenen? Die Touristen? Die Studenten?" Hauke schüttelte den Kopf. "Weißt du noch, wie wir damals die Serie über alte Höfe in Angeln gemacht haben? Mit Portraits der Familien, der Geschichte..."
Jens nickte. "Meine Frau hat die Artikel alle ausgedruckt und in einem Ordner gesammelt."
"Die Serie hat uns damals 22.000 Leser pro Woche gebracht. Letztes Jahr haben wir sie wiederholt – und kamen auf knapp 900 Zugriffe." Hauke bestellte mit einer Handbewegung zwei neue Biere. "Die Leute erfahren nicht mehr, was in ihrer unmittelbaren Umgebung passiert, wenn es nicht spektakulär genug ist, um überregional aufzufallen."
"Und was passiert jetzt mit dem ganzen Material? Den Archiven? Der Chronik der letzten Jahre?"
"Bleibt vorerst online, aber ohne Updates. Vermutlich verschwinden wir langsam aus den Suchergebnissen. Irgendwann wird die Domain auslaufen." Hauke zuckte mit den Schultern. "Wir bleiben bestehen als Futter für die KI-Modelle. Lustig, oder? Man nimmt unsere Arbeit, um uns überflüssig zu machen."
Das frische Bier kam. Beide Männer starrten schweigend auf ihre Gläser.
"Und was machst du jetzt?" fragte Jens schließlich.
"Ich hab 'nen Job bei 'ner Agentur in Hamburg angenommen. Social-Media-Content für Versicherungen." Haukes Stimme klang hohl. "Und Lena geht zu 'ner PR-Firma. Etwas mit KI-generierten Texten optimieren."
Jens griff plötzlich nach Haukes Arm. "Weißt du noch, als letztes Jahr der Deich bei Holnis brach? Ihr wart zwei Stunden vor dem NDR da. Habt die Leute informiert, wo sie hinsollen..."
"Jo." Hauke lächelte schwach. "Das war wichtig."
"Und wer macht das jetzt? Diese Maschinen?"
Hauke trank einen großen Schluck. "Das ist das Problem, Jens. Niemand macht es mehr."