Die Welt war besser, weil Du da warst

Dies ist der Text, den ich - ziemlich frei und anders - auf der Trauerfeier meiner Mutti gesprochen habe. Ich vermisse sie so unendlich. Und ich bin noch immer fassungslos.

Trauerrede Brigitte Betzinger

Bis gestern Nacht wollte ich das, was ich hier und heute über meine Mutti sage, völlig anders beginnen.

Aber irgendwie passte es nicht. Nicht zu mir - und schon gar nicht zu meiner Mom.

Als ich im Bett wäre ich, wie so oft in den letzten Wochen, am liebsten weggerannt. Weggerannt vor dem heutigen Tag. Dann wäre das hier alles vielleicht einfach nicht wahr. Ein böser Traum, aus dem ich auch wieder aufwache.

Aber gleichzeitig weiß ich, was meine Mom dem kleinen verängstigten und unendlich traurigen Jungen tief in mir sagen würde. Nämlich genau das gleiche, was sie dem kleinen verängstigten dreijährigen Jungen gesagt hatte, der ich vor so vielen Jahren war.

Als ich drei Jahre alt war, da musste ich untersucht werden und es stand mir eine Rückenmarkspunktion bevor. Und ja, das ist so ziemlich genauso schmerzhaft, wie es klingt.

Und was machst Du, Mom, zum Horror der anwesenden Schwestern im Krankenhaus? Du sagst mir ziemlich gerade raus, dass die Untersuchung sehr, sehr weh tun wird. Und, dass ich so viel weinen und schreien darf, wie ich will. Und dass das völlig okay sei. Dass ich mich aber unbedingt nicht bewegen darf, damit der Arzt das ganze nicht ein zweites Mal versuchen müsse.

Und genauso fühle ich mich hier und heute.

Mom, Du hast oft erzählt, dass mich die Schwestern im Krankenhaus Dir am liebsten weggenommen hätten. Denn man könne einem Kind sowas doch nicht sagen.

Doch. Kann man. Du konntest das. Und ich bin dir dafür bis heute unendlich dankbar. Denn so hatte ich mein Leben lang immer das Vertrauen, dass das, was Du sagst auch so ist.

Wir alle erinnern uns an meine Mutter. Erinnern uns an sie als Brigitte. Als Jürgens Frau. Vielleicht sogar als Ulis Frau. Als Schwester, Schwägerin, Tante. Freundin, Nachbarin, Weggefährtin.

Und ja, sie hatte noch so viel vor. Wollte es sich noch einmal schön machen. Ist rausgegangen, hat getanzt, das Leben wieder genossen und hat Menschen kennengelernt. Sie hatte Urlaubspläne. Wollte endlich wieder Sport machen, jetzt da ihr Bein endlich wieder schmerzfrei war.

Ich glaube fest daran, dass sie sich von uns wünschen würde uns genau daran zu erinnern, wenn wir an sie denken.

Dass wir, wenn wir an sie denken, an den Menschen denken, der sich einen eigenen Weg gesucht und gewählt hat. Und wie sie diesen Weg trotz aller Beschwerlichkeiten, die so ein Leben mit sich bringt trotzdem mit Lust und Freude gegangen ist.

Altwerden ist nichts für Feiglinge – und das warst Du nicht, Mom.

Die folgenden Worte fand ich kurz nach ihrem Tod in einem Buch ihres Bruders:

Wir alle sind Besucher dieser Zeit und dieses Ortes. Wir sind nur auf der Durchreise. Unser Ziel ist es hier zu beobachten, zu lernen, zu wachsen, zu lieben.

Mom, Dein Besuch hier - war wirklich viel zu kurz.

Wenn ich Dich denke, Dich vor mir sehe, dann sehe ich sofort auch immer eine Katze. Eigentlich sehe ich eine ganze Reihe von Katzen. Die, die schon lange nicht mehr unter uns sind, genau wie die beiden, die jetzt wieder bei uns zu Hause im Norden leben und dich vermissen.

Und, wenn ich an dich denke, dann schmecke ich Dein Essen.

"Essen ist Heimat" habe ich mal gelesen. Und ich finde, nirgends stimmt das so sehr, wie bei dem Essen, das wir in unseren Erinnerungen an geliebte Menschen verbinden.

An was ich mich aber noch viel mehr und besonders erinnere ist, dass du immer da warst. Du hast an mich geglaubt - und mir gezeigt, dass ich an mich selber glauben kann.

Welcher Dreijährige wird schon darin unterstützt (und bestärkt) trotz Schwimmflügeln vom Drei-Meter-Brett zu springen? Du hast auf mich im Becken gewartet und mich festgehalten, als ich nach dem Sprung wie ein Korken zurück an die Wasseroberfläche kam. Ich glaube, ich wollte danach direkt nochmal springen.

Diese Kraft, die Überzeugung, dass ich etwas schaffen kann, das habe ich ganz früh von dir gelernt.

Was Du dabei aber nie getan hast, war es, mich in Watte zu packen.

Dinge beim Namen nennen. Und nicht vor der Wahrheit zurückscheuen. Das hast Du immer vorgelebt. Und nein, das war nicht immer leicht. Aber gut. Und wichtig. Und wertvoll. Und ich hoffe, ich werde diese Eigenschaft von Dir weitertragen.

Und genau deshalb stehe ich heute dann doch hier. Obwohl ich noch immer am liebsten weglaufen möchte und nicht wahrhaben möchte, dass ich dich nie mehr in den Arm nehmen kann. Nie mehr deine Stimme hören werde. Dass die Wohnung in Solingen leer bleiben wird.

Ich darf weinen so viel ich will. Das habe ich von Dir gelernt. Aber ich muss auch aushalten in der Trauer. Auch das habe ich von Dir gelernt. So wie damals als Dreijähriger. Ich habe das damals geschafft. Dank der Kraft, die Du mir gegeben hast. Und auch heute werde ich das schaffen.

Trotzdem – und gerade deshalb: Ich vermisse Dich. Mehr als ich sagen kann. Mehr als ich Worte habe.

Die Welt war besser, weil Du da warst.

Noch ein paar Eindrücke aus einem viel zu kurzen Leben