Die ersten Schritte durch das Tor

Die ersten Schritte durch das Tor

Dies ist meine fiktive Auseinanndersetzung mit dem, was mich seit meinem gestrigen Besuch im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg bewegt. Das Leid, die Gewalt, die Verdrängung nach dem Krieg, bis in die 1990er Jahre. All das hat mich betroffen und sprachlos zurückgelassen.

Aber vielleicht, nur vielleicht, kann ein bisschen Fiktion ausdrücken, wozu ich mit Fakten noch nicht in der Lage bin.

Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg
Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg

Es beginnt

Neuengamme, 12. Dezember 1938

Der bittere Wind beißt mir ins Gesicht, als unser Zug am späten Nachmittag vor dem kahlen Bahnhof von Bergedorf zum Stehen kommt. Von dort werden wir hundert Männer auf offene Lastwagen verladen. Es ist kalt. Der scharfe Wind lässt den Winter schon erahnen. Die wenigen Grad fühlen sich bitterkalte an. Der Transport aus Sachsenhausen war lang. Und kräftezehrend. Ich bin keine sechzehn, der Jüngste unter uns. Meine Hände zittern nicht nur vor Kälte.

Neben mir sitzt Herr Goldstein. Ich kenne ihn seit kurzem aus Sachsenhausen. Er trägt den gelben Winkel - "Schutzhaft - Jude" steht in seinen Papieren. "Schutzhaft", was für ein Wort. Seit der Kristallnacht im November wurde er wie Tausende andere jüdische Männer verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht. Nun sind wir beide hier, zurück in unserer "Heimat", zurück bei Hamburg. Verladen wie Vieh auf dem Weg zu dieser neuen Ziegelei.

"Aussteigen! Schnell! Los, los!"

Die vierzig SS-Männer aus Buchenwald haben uns den ganzen Weg bewacht. Ihre Stimmen schallen über das flache Land der Vier- und Marschlande, wo vor uns eine stillgelegte Ziegelei liegt. Die SS hat sie gekauft - getarnt als die "Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH", wie uns der Unterscharführer höhnisch erklärt. Hier haben wir zu arbeiten, Ziegel brennen für die großen Bauten, die Hitler und Albert Speer am Hamburger Elbufer planen.

Ich springe vom Lastwagen und stolpere fast. Die Gegend ist flach und weitläufig, durchzogen von kleinen Kanälen und Gräben. In der Ferne kann ich das Dorf Neuengamme sehen - ein paar Bauernhöfe und ein Gasthaus. Die Dove-Elbe schlängelt sich träge durch die Landschaft. Zwanzig Kilometer südöstlich von Hamburg sind wir, aber es fühlt sich an wie am Ende der Welt.

Die ersten provisorischen Baracken sind hastig errichtet worden. Alles riecht nach frischem Holz und feuchter Erde. Das Lager ist mehr eine Baustelle als ein fertiges Gefängnis - wir sind die ersten, die hierher gebracht werden, die Versuchskaninchen für diesen neuen Ort des Schreckens.

"Ihr seid hier, um die Ziegelei wieder betriebsfertig zu machen!" brüllt der Lagerführer. "Wer arbeitet, wird anständig verpflegt. Wer sich weigert, lernt uns kennen!"

Die Worte hallen über das Gelände. Anders als in Sachsenhausen wirkt hier noch alles improvisiert, unfertig. Die Verpflegung ist tatsächlich besser als erwartet - die SS braucht uns arbeitsfähig für den Neuaufbau. Noch ahnen wir nicht, dass sich das ändern wird, sobald der Krieg kommt.

Paul Weber, den Kommunisten aus Hamburg-Altona, erkenne ich auch wieder. Er trägt den roten Winkel der politischen Häftlinge und flüstert mir zu: "Halt durch, Junge. Wir sind die ersten hundert, aber nicht die letzten." Seine Stimme ist rau vor Kälte, aber er versucht, mir Mut zu machen.

Ich presse die Lippen zusammen, um nicht zu weinen. Drei Wochen ist es her, dass sie mich in Hamburg-Wilhelmsburg abgeholt haben. "Zigeuner-Mischling", steht in meinen Papieren. Den braunen Winkel der "Asozialen" muss ich jetzt tragen, wie alle Sinti und Roma. Meine Mutter hatte noch versucht, den Beamten zu erklären, dass ich doch zur Schule gehe, aber der hatte nur gelacht: "Die lernen früh, was Arbeit ist."

Die erste Baracke ist spartanisch eingerichtet. Wir schlafen auf dem nackten Boden, dicht aneinander gedrängt gegen die Kälte. Das Stroh ist feucht und riecht modrig. Herr Goldstein liegt neben mir und erzählt leise von seinem Uhrengeschäft in der Mönckebergstraße, das sie demoliert haben. Seine geschickten Hände zittern jetzt, wenn er versucht, sich eine Zigarette zu drehen.

Am ersten Arbeitstag führen sie uns zur alten Ziegelei. Die Maschinen sind verrostet, die Öfen kalt seit Jahren. Wir sollen alles wieder in Gang bringen - Tongruben ausheben, Maschinen reparieren, die Öfen anheizen. Die Arbeit ist hart, aber noch nicht die Tortur, die sie später werden wird.

"Seht ihr die Dove-Elbe dort drüben?", sagt Friedrich, ein alter Gewerkschafter von Blohm + Voss, und deutet auf das Wasser, das träge zwischen den Feldern fließt. "Dort soll ein Kanal gebaut werden, direkt zur Elbe. Und wir werden ihn graben."

Die Bauern aus dem Dorf schauen neugierig zu uns herüber, wenn wir zur Arbeit marschieren. Manche wenden schnell den Blick ab, andere starren uns offen an. Ein alter Mann am Zaun seines Hofes nickt mir einmal fast unmerklich zu - ein winziger Moment menschlicher Wärme in dieser kalten Welt.

Abends, wenn wir in der Baracke liegen, höre ich manchmal die Glocken von Hamburg in der Ferne läuten. Dann denke ich an meine Familie im Wohnwagen in Wilhelmsburg, an meine kleine Schwester, die vielleicht auch diese Glocken hört und an mich denkt.

"Das hier ist nur der Anfang", sagt Weber eines Abends leise. "Ich kenne die Pläne - sie wollen das Lager ausbauen. Tausende sollen hierher kommen, sobald der Krieg beginnt."

Ich denke an die SS-Männer aus Buchenwald, die uns bewachen - sie reden davon, dass das hier ein "Modellager" werden soll. An die Baupläne, die ich in der Kanzlei gesehen habe, als ich dort saubermachen musste. An die Gleise, die zur Ziegelei führen sollen. An den Kanal, der gegraben werden muss.

Die Winternächte sind lang und kalt. In der Ferne glimmen die Lichter von Hamburg, und ich frage mich, ob die Menschen dort wissen, was hier draußen geschieht. Ob sie ahnen, dass zwanzig Kilometer von ihren warmen Stuben entfernt etwas entsteht, das Tausende das Leben kosten wird.

Noch ist die Verpflegung ausreichend, noch sind die Schläge selten, noch gibt es Hoffnung auf eine baldige Entlassung. Aber in den Augen der SS-Männer sehe ich schon jetzt etwas, das mir Angst macht. Eine Kälte, die nicht vom Dezemberfrost kommt, sondern aus ihren Herzen.

Hier, in den Marschen von Neuengamme, beginnt eine Geschichte, die erst sieben Jahre später enden wird. Eine Geschichte, die mit hundert frierenden Männern aus Sachsenhausen anfängt und mit über 100.000 Häftlingen und über 50.000 Toten aus ganz Europa enden wird.

Aber das ahnen die Häftlinge noch nicht, als sie an diesem kalten Dezembertag 1938, die ersten Schritte durch das improvisierte Tor der stillgelegten Ziegelei machen.


Heute

Heute, fast 87 Jahre später, blicken wir auf einen Ort um dessen Existenz unglaublich lang gekämpft werden musste. Eine Gedenkstätte, deren Idee erst in den 1990er Jahren so richtig an Fahrt gewonnen hatte, nachdem Hamburg Jahrzehntelang versucht hatte, die Erinnerung unter den Teppich zu kehren.

Weder die meisten Bürger, noch - und vor allem die Politik - wollten diesen Ort. Wollten gemahnt werden, dass ihre ach so weltoffene und schöne Stadt eine der ersten war, die sich voll und ganz dem Nationalsozialismus verschrieben hatte.

Doch gerade heute sind solche Orte wichtiger denn je. Orte, an denen der "Vogelschiss der Geschichte" eben genau das nicht ist. Nicht von braunen Hetzern als unbedeutend weggewischt werden kann. Orte, die uns daran erinnern, dass - so wir nicht verantwortlich sind für die Taten unserer Vorfahren - wir dafür sorgen müssen, dass so etwas nie wieder passieren darf.

Ich bin wütend. Traurig und erschüttert.

Die Studie von Forschung & Lehre befragte 1002 Bundesbürger, von denen 18% kein Konzentrationslager namentlich kannten. Die Claims Conference Umfrage ergab, dass etwa 12% der Befragten den Begriff "Holocaust" nicht kannten. Und, dass etwa 40% der 18- bis 29-jährigen Befragten nicht wussten, dass etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden.

Nie wieder ist jetzt.

Eindrücke vom Besuch in Neuengamme

Eindrücke aus der Gedenkstätte des KZ Neuengamme