Der Pippi Langstrumpf Effekt: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt
Immer wieder stolpere ich in aktuellen Online-Diskussionen auf Menschen, die keine Lust haben nachprüfbare Fakten auch nur in Erwägung zu ziehen. Nicht nur ich nenne das den "Pippi Langstrumpf Effekt" (oder: Pippi Langstrumpf Syndrom).
Der Bestätigungsbias
Es gibt in der Psychologie den bekannten Effekt, dass Menschen dazu neigen für ihre Meinung nach Bestätigung zu suchen und widersprüchliche Fakten (eher) auszublenden. Das ist natürlich nur eine Tendenz, aber wir kennen das doch alle selbst: Die Ampel ist immer dann rot, wenn wir es eilig haben. Die Parkplätze dann besonders belegt, wenn wir dringend einen Parkplatz brauchen.
Das liegt daran, dass wir uns an bestätigende Momente stärker erinnern als an die Erfahrungen, wenn unsere Meinung widerlegt wurde.
Es ist auch tatsächlich gar nicht so einfach dem Bestätigungsbias zu entkommen. Man muss aktiv nach Dingen suchen, die der eigenen Meinung/Hypothese widersprechen.
Aber kann ich diese (online) eigentlich überhaupt finden? Und falls ja, wie?
Die personalisierte Filterblase
Habt ihr schon mal an einem fremden Computer (beispielsweise am Handy von Freunden, am Rechner von Bekannten - alles natürlich nur nach Rücksprache) parallel nach etwas bei Google gesucht? Habt ihr vielleicht schon mal versucht was mit Euren Suchergebnissen oder YouTube Vorschlägen passiert, wenn ihr eine Zeitlang in einem privaten Browserfenster einer Verschwörungstheorie (oder irgend einem umstrittenen Thema) hinterher recherchiert?
Ihr erlebt "das Wunder" der Personalisierung. Genau wie Onlineshops, Netflix und Amazon versuchen auch Google, Facebook oder YouTube (und andere) Euch "besser kennenzulernen" und Euch Inhalte anzuzeigen, die möglichst Euren Interessen entsprechen.
Wenn Du also eine gewisse Zeit häufiger auf Inhalte von Impfgegnern, Corona-Leugnern, rechtskonservativen, antifaschistischen oder klimawandel-"kritischen" Seiten/Profilen klickst und dann dort auch länger bleibst (also die Inhalte auch vermeintlich konsumierst), dann werden dir die "schlauen Algorithmen" im Hintergrund immer mehr von dem Kram anzeigen, weil sie davon ausgehen, dass Dir die Inhalte gefallen. Und das natürlich auch, wenn Du dich erst einmal nur über diesen Blödsinn informieren willst.
Denn die Logik der Plattformen besagt, dass sie für Dich relevanter sind, wenn sie Dir mehr Inhalte anzeigen, die Dich interessieren. Und da sie nicht in Deinen Kopf schauen können müssen sie sich an Deinem Klickverhalten orientieren. Aberhunderte von Experimenten mit Nutzern ohne deren Wissen haben das für die Plattformen immer und immer wieder belegt.
Das Ziel ist wie immer, dass Du möglichst viel Zeit auf diesen Plattformen verbringst. Und natürlich auch häufiger zurück kommst. Du sollst sie also länger und öfter nutzen.
Warum? Nun, beides sorgt dafür, dass Dir die Plattformen mehr Werbung anzeigen können. Natürlich ebenfalls angepasst an Deine Interessen. Denn in der aktuellen Online-Logik ist sogenannte "personalisierte Werbung" der heilige Gral.
Alle glauben daran, dass es besser ist Dir auf einem Artikel über Blähungen den aktuellen 3er BMW anzuzeigen (weil Du Dich zufällig auch für Autos interessierst), als ein Mittel, wie man Blähungen mildern kann. Letzteres nennt sich kontextbaasierte Werbung, braucht keine massiven Nutzer- und Interessenprofile von Dir und funktioniert laut den Vertretern von personalisierter Werbung angeblich deutlich schlechter. Unabhängige Studien lassen das Gegenteil vermuten. Aber das würde hier zu weit führen.
Die Plattform kann also ihr eigentliches Produkt (das bist natürlich Du) so schulssendlich deutlich gewinnbringender an ihre Kunden (das sind die Werbetreibenden) verkaufen. Denn personalisierte Werbung ist auch teurer für den Werbetreibenden. Damit also lohnenswerter für die Plattformen.
Du wirst also mit virtuellen Gummipunkten (und dem damit verbundenen kleinen Glücksgefühl) abgespeist. Auf Facebook und Instgram heißen die Dinger "like" oder so. Google ermöglicht keine Gummipukte - die zeigen Dir "nur" Suchergebnisse von denen sie glauben, dass sie Dich interessieren.
Am Ende - also durch den Trend der Personalisierung - entsteht so bei den meisten Menschen - und vielleicht auch bei Dir - ein eher homogener Inhaltebrei, gemischt aus Deinen (vermeintlichen) Interessen. Das ist teilweise ja auch ganz schön.
So freue ich mich beispielsweise, wenn ich auf Instagram Gartenbilder, coole SciFy Gemälde und interessante digitale Animationen sehe. Auch scheint in den meisten Fällen eine personalisierte Google Suche vordergründig besser, da sie mir schneller zeigt, was ich als Information gerade benötige.
Aber ich weiß halt auch, wie das zustande kommt. Und, dass es einen Unterschied macht, ob ich nach einer bestimmten Funktion in der Programmiersprache python suche, oder nach aktuellen Erkenntnissen zu Corona.
Und im Gegensatz zu relevanten gesellschaftlichen oder politischen Themen ist es weder bei Instagram, noch bei technischen Google Suchen auch kein Problem in meiner selbstgewählten Filterblase zu stecken.
Die problematische Filterblase
Zum Problem, meiner Meinung nach, werden Filterblasen dann, wenn sie dafür sorgen, dass Menschen in eine bestimmte Richtung beeinflusst werden. Wenn ich zum Beispiel keine Ahnung davon habe, wie Impfungen funktionieren. Oder was wirklich hinter Corona steckt.
Dann bin ich, wenn mir das technische Hintergrundwissen fehlt, den Plattformen und ihren Algorithmen ausgeliefert.
Wenn ich wenig bis keine Ahnung von einem Thema habe hängt es im Grunde fast vollständig davon ab, welche Inhalte mir bei meinen ersten Suchen angezeigt werden. Und natürlich auch in welcher Reihenfolge sie sortiert sind. Und je nachdem, was ich zufällig als erstes klicke, beeinflusst im Folgenden wie weitere Suchergebnisse personalisiert werden.
Wenn ich jetzt zufällig auf einen harmlos klingenden Impflink klicke wie "Impfen Pro und Contra", dann sehe ich künftig mit höherer Wahrscheinlichkeit ähnliche Inhalte. Dass dieser Inhalt von Impfgegnern ins Netz gestellt wurde ist dabei für den Algorithmus egal. Am Ende steigt dadurch "nur" die Chance, dass ich mehr Inhalte von Impfgegnern angezeigt bekomme.
Analog gilt das natürlich auch für Inhalte von Coronaleugnern.
Ich habe also ohne das notwendige Hintergrundwissen keine gute Chance mich gegen die Beeinflussung der Algorithmen zu wehren. Denn die Inhalte, die mir präsentiert werden, zeigen ja auch nicht von Anfang an, auf welcher Seite die Macher dahinter eigentlich stehen.
So wird die Blase, die sich um mich schließt zur Gefahr für eine gute und umfassende Information.
Aber damit nicht genug. Es kommt noch etwas dicker.
Die Feinde guter Information: SEO und die Verfügbarkeit im Kopf
Da waren sie wieder. Meine zwei Probleme. So könnte man den folgenden Abschnitt recht passend einleiten. Gut, hab ich ja gerade auch getan.
SEO oder wieso finde ich Fake News/Fake Science?
SEO, die Abkürzung für das englische "Search Engine Optimization" steht für die unglaublich sinnvolle Tätigkeit im Internet seine Webseiten und seine Inhalte so zu gestalten, dass sie möglichst gut bei Google (und den anderen Suchmaschinen, die keiner nutzt) gefunden werden können.
Es gibt, dazu passend, einen alten Witz aus der SEO-Szene:
Wo versteckt ein SEO-Optimierer eine Leiche? Auf Seite zwei bei Google.
Es stimmt. Statistiken zeigen, nur extrem wenige Menschen bei Google auf die zweite Seite wechseln. Alles was auf Seite zwei oder weiter hinten gelistet wird sieht "niemand" (naja - ok fast niemand). Über die Hälfte, bis zu zwei Drittel der Klicks nach einer Google Suche gehen auf die ersten fünf Suchergebnisse. Auf Smartphones diese Werte das sogar noch höher.
Wenn man bei Google gefunden werden will, muss man also möglichst weit "oben ranken", wie es genannt wird. Also möglichst auf den ersten Plätzen des Suchergebnisrennens auftauchen.
Neben der Gestaltung der Seite, der Frage, wie gut die Seite technisch funktioniert und der Frage, wie die Inhalte aufbereitet sind spielen viele andere Faktoren (Google sagt über 200) eine Rolle. Beispielsweise auch, wie viele andere Seiten einen verlinken, wie lange Menschen auf den jeweiligen Seiten verweilen und die Inhalte konsumieren und so weiter und so fort.
Es gibt eine ganze Branche, die ihr Geld damit verdient Webseiten so zu optimieren (ist das eigentlich digitales Doping?), damit sie besser gefunden werden. Nicht immer mit ethisch sauberen Methoden übrigens. Hier gibt es ein großes, weites Feld der üblen Methoden.
Interessanterweise sind es aber gerade die Schwurbler, die echt gut darin sind ihre Seiten für den Google-Algorithmus zu optieren. Vor allem aber sind sie auch einfach echt gut darin ihre Inhalte im Netz so zu verteilen, dass andere (ebenfalls schwurbelige Seiten) auf sie verlinken (oder bei Twitter/Facebook/was auch immer teilen). Es entstehen sehr organisch (und teilweise gekauft) Verlinkungsnetzwerke, was für die Algorithmen der Suchmaschinen diese Seiten als relevant erscheinen lässt.
Meist sind die Texte für den Laien auch recht gut lesbar geschrieben, es gibt Videos (verlängern zusätzlich die Aufenthaltsdauer) und die Texte haben eine Länge, die Google mag (nicht zu kurz vor allem). Die Seiten betreiben recht gutes "Storytelling", wie man sagt. Sie erzählen schöne Geschichten. Nicht nur kalte Fakten und Zahlen.
Sie erzählen vor allem Geschichten von "Gut" gegen "Böse". Nutzen also Erzählmuster, die uns vertraut sind und die in unserem Kopf die Glaubwürdigkeit (bei vielen Menschen) erhöhen. Neutrale oder wissenschaftliche Seiten neigen hingegen zu einer kühlen, faktenbasierten Berichterstattung.
Experimente zeigen immer und immer wieder, dass gute, emotionale Geschichten nach klassischen Erzählmustern unsere Aufmerksamkeit viel besser "fesseln". Und wir die Inhalte auch besser behalten. Und außerdem noch den Inhalten eine höhere Glaubwürdigkeit zuschreiben. Für SEO heißt das, dass gute Geschichten eine bessere Chance haben weit oben in den Ergebnissen zu landen.
Wenn man die Wahl hat zwischen drögen wissenschaftlichen Fakten und den Geschichten von unterdrücktem Wissen und einer Weltverschwörung, dann sind manchen die Geschichten der Schwurbler wohl eindeutig lieber...
... oder (in meinem Fall) eben gerade nicht.
Manchmal glaube ich fast, dass SEO das Internet kaputt macht. Wie ich nur auf so eine Idee komme?
Verfügbarkeitsbias und die Filterblase
Man könnte sagen (und ich weiß, diese Metapher hinkt ein "klitzekleines bisschen"), in unserem Kopf ist es ähnlich wie mit Google. Es zählen nur die ersten Suchergebnisse.
Der Mensch tendiert dazu, dass er die Dinge wichtiger nimmt/glaubwürdiger findet, an die er sich besser erinnern kann. Wenn ich Menschen beispielsweise frage, wie gefährlich Haiangriffe sind - oder wie gefährlich Terrorismus ist, dann erinnern sich die Menschen sehr schnell an viele Berichte, daran, dass das Thema immer groß und präsent in den Medien ist.
Dass im Jahr nur etwa sechs Menschen im Durchschnitt an einem Haiangriff versterben ist dabei unwichtig - das wissen wir in dem Moment nicht. Unser Gehirn begeht einen sogenannten "Fehlschluss". Analog gilt das natürlich für die Terrorgefahr. Immerhin ist es unglaublich viel wahrscheinlicher im Straßenverkehr zu sterben. Oder bei einem Haushaltsunfall als durch einen Terrorakt.
Giftige Kombination
Wenn ich nun aber bei meinen Internetsuchen immer stärker die Inhalte angezeigt bekomme, die ich zuerst geklickt habe und so von der Suchmaschine in eine Richtung gelenkt werde. Und diese Richtung vor allem davon beeinflusst ist, welche Seiten bei Google (aufgrund ihrer SEO-Qualitäten) höher angezeigt werden, dann ergibt sich folgendes Bild.
Mir als unbedarfter Nutzer werden gerne mal bei einer Suche auch Schwurblerseiten angezeigt. Diese tauchen in den oberen Suchergebnissen auf, weil sie gut darin sind das SEO-Spiel zu spielen. Ich klicke auf Schwurblerseiten, weil sie weit oben stehen. Google merkt meine Klicks und zeigt mir künftig tendenziell mehr Schwurblerseiten an.
Und das beste - nicht nur zu meinem Suchbegriff. Weil nämlich Menschen, die Impfgegnerseiten besuchen auch überproportional stark Coronaleugnerseiten besuchen wird mir dann bei der Suche nach Corona-Information direkt mal verstärkt das Coronaleugner-Geschwurbel angezeigt.
Jetzt sehe ich also viele Schwurblerseiten und kenne viele Schwurbler-"Argumente" zu einem Thema. Und wenn ich über das Thema nachdenke wird mir - aufgrund der Menge, die ich dazu gefunden habe - die Deutung der Schwurbler richtiger/wahrscheinlicher und vor allem glaubwürdiger erscheinen, als wenn ich anfänglich in eine andere Richtung, die verifizierter wissenschaftlicher Erkenntnisse, abgebogen wäre.
Fazit
Die Kombination aus den psychologischen Fehlschlüssen, den Interessen der Plattform (mehr Werbung verkaufen), der Personalisierung der Inhalte und der Chance mit SEO möglichst gut jeden Inhalt weit oben bei Google zu platzieren - egal wie verschwurbelt der ist - diese Mischung erscheint mir aktuell ein "klitzekleines bisschen" toxisch.
Vor allem in Kombination mit mangelnder Medienkompetenzbildung in den Schulen. Woher soll der Durchschnittsnutzer im Internet das denn auch wissen?
Die alten Aufklärer forderten den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Es gibt nicht wenige Menschen, die eine neue Aufklärung fordern. Nur wie? Und vor allem müsste der Spruch dann im Hinblick auf unser Bildungssystem und die technische Entwicklung lauten:
Ausgang des Menschen aus seiner fremdverschuldeten Unmündigkeit.
Ich weiß es aktuell nicht. Ich beobachte nur mit Sorge, was hier passiert.