Meinung als Identität: Eine gefährliche Vermischung



Wieso sind "Diskussionen" mit Menschen bestimmter Ansichts-Richtungen (ich will nicht sagen Glaubensrichtungen) so oft vollkommen nutzlos, teilweise sogar aktiv schädlich?

Wieso bringen vor allem Onlinediskussionen hier oft die schlechtesten Eigenschaften der Menschen zum Vorschein?

bonsai

Meinung wird zur Identität

Ich frage mich, wie es dazu kommt, dass wir unsere Meinungen so oft zu einem Teil unserer Identität machen. Vielleicht hilft auf dem Weg zum Verständnis ein kleines, hoffentlich greifbares Beispiel.

Ein Beispiel ohne Meinung

Lasst mich zwei unterschiedliche Aussagen treffen:

Ich bin Mac-Nutzer. Windows-Nutzer. Bei Linux bin ich aktuell vor allem Ubuntunutzer. Und ich bin Androidnutzer.

In diesen Aussagen mache ich mir verbal die Nutzung bestimmter Betriebssysteme zu eigen und könnte am Ende sagen, dass ich ein Multibetriebssystemnutzer bin. Ich bin etwas.

Ich nutze MacOS, nutze Win10, nutze im Umfeld von Linux aktuell vorrangig Ubuntu und CentOS. Außerdem habe ich ein androidbasiertes Smartphone.

In der zweiten Formulierung nutze ich etwas. Ich benutze es, mache es mir aber - zumindest verbal - deutlich weniger zu eigen. Es wird kein Teil meiner ausgesprochenen Identität.

Identitätsschaffende Meinung(en)

Analog funktioniert das natürlich auch mit Meinungen, Philosophien, echten Glaubensrichtungen oder pseudoreligösen Strömungen.

Ich kann beispielsweise der Meinung sein, dass eine vegane Lebensweise vorteilhaft für das Klima, die Umwelt, die Verhinderung des Artensterbens und das Tierwohl ist und kann deshalb entscheiden einer veganen Lebensweise nachzugehen.

Ich kann hingegen auch Veganer sein.

Ich kann der Meinung sein, dass das Sars-CoV-2 Virus weniger gefährlich ist, als in den Medien kommuniziert. Auch kann ich der Meinung sein, dass Viren nicht existieren. Ich kann sogar der Meinung sein, dass Bill Gates im Hintergrund die Fäden zieht.

Ich kann dies aber auch zu meiner Identität machen, mich als Querdenker (oder Verfolgter wie Anne Frank) bezeichnen.

Ich kann also eine Meinung haben/teilen. Oder ich kann meine Identität auf dem Fundament dieser Meinung aufbauen.

Die Schwierigkeit mit der Meinungsidentität

Wird die eigene Meinung (oder die Meinung anderer) zum Teil der eigenen Identität, wird jedes Argument gegen diese Meinung zu einem Angriff auf die eigene Identität. Eine rationale Diskussion, in der Argumente und Gegenargumente ausgetauscht werden, wird so unmöglich. Jeder Austausch wird zu einem existentiellen "Kampf". Man muss sich, seine Identität und sein Weltbild verteidigen. Man fühlt sich angegriffen.

Dieses sich argumentativ angegriffen fühlen - so zeigen Studien - führt zu den gleichen körperlichen (Stress-)Reaktionen, wie eine physische Bedrohung. Es werden die entsprechenden Hormone ausgeschüttet und Körper und Geist gehen in einen Modus über, der nur noch drei Reaktionen kennt:

Oder, wie ein Kommunikationstrainer in einem Seminar meiner deutlich besseren Hälfte mal so treffend formulierte:

Wenn das Strudelwürmli (das ist die Amygdala) an die Macht kommt, geht die Großhirnrinde (unser rationaler Verstand) an die Bar einen trinken. (Peter Brandl)

Am Ende kennt dieser Zustand keine rationalen Argumente. Der Teil unseres Gehirns, der dafür zuständig wäre steht an der sprichwörtlichen Bar, blickt traurig auf die sich entfaltende Schlammschlacht und kippt sich den nächsten Drink hinter die ebenso sprichwörtliche Binde.

Gut, ich trinke keinen Alkohol, aber trotzdem kenne ich dieses Verhalten auch von mir selbst nur zu gut.

Was tun?

Was mich an der Theorie der möglichst kleinen Identität fasziniert - und bisher habe ich für diese Theorie nur einen alten Blogpost von 2009 - ist, dass sie ein hilfreiches Werkzeug für mich ist, mit dem ich mich selbst in Diskussionen beobachten kann.

ameise

Mache ich mir ein Thema zu eigen, fange ich an anders zu diskutieren. So kann ich versuchen mich selbst besser zu hinterfragen. Und ich laufe so möglicherweise weniger Gefahr dem Pippi-Langstrumpf-Effekt zu verfallen.

Auch hilft mir die Theorie dabei Diskussionen und Diskussionspartner zu identifizieren, von denen ich mich besser, für meine eigene geistige Gesundheit, fernhalten sollte.

Mehr als Toleranz

Es geht hier übrigens nicht darum tolerant zu sein. Vor allem nicht gegenüber anderen tolerant zu sein. Eigentlich ist es aus meiner Sicht purer Egoismus. Denn es geht darum, dass uns die Meinungen, die wir uns zu eigen machen geistig weniger flexibel machen.

Diese Meinungsidentitäten nehmen uns die Möglichkeit wissenschaftlich an ein Thema heranzugehen. Also unsere Meinungen als aktuelle Hypothesen zu verstehen, die einer stetigen Überprüfung durch die Realität unterworfen sind.

Nur so können wir lernen. Nur so können wir jeden Tag ein kleines bisschen weniger dumm werden. Nein - nicht intelligent - nur ein kleines bisschen weniger falsch in unseren Ansichten. Denn wir alle tragen einen großen Haufen veralteter und damit falscher Ideen mit uns herum.

Wir alle liegen in den aller meisten Fragestellungen unseres Lebens mit viel höherer Wahrscheinlichkeit mindestens ein gutes Stück neben dem aktuellen Wissensstand, als richtig zu liegen. Oftmals liegen wir sogar vollkommen falsch.

Glaubt mir - ich weiß wovon ich spreche. Ich habe in den vergangenen Jahren so viel meines veralteten Schulwissens über Bord werfen müssen. Und da ist ganz sicher noch viel mehr im sprichwörtlichen Laderaum.

Nur indem wir offen dafür bleiben uns stets selbst zu hinterfragen. Unsere Meinungen der Falsifikation zu unterwerfen, nur so erhalten wir uns die Möglichkeit neues Wissen zu sammeln, in unsere Hypothesen/Weltbilder zu integrieren und diese künftig weiterhin offen für die Überprüfung zu halten.

Sei mehr Wissenschaftler?

Ich weiß nicht. Früher hätte ich dem Blogpost von Graham zugestimmt, dass man die Identität des Wissenschaftlers annehmen solle/könne. Grundsätzlich stimme ich seiner Idee - so wie ich sie verstehe - sogar zu.

Nur leider sind auch Wissenschaftler nur Menschen und aktuell gibt es viele Beispiele von Menschen, die sich Wissenschaftler nennen, die aber im Grunde nur religiöse Gläubige (oder gar Sektenführer) sind.

Deshalb würde ich heute eher sagen, man solle die wissenschaftliche Methode und wissenschaftliche Ideen wie beispielsweise die Falsifizierbarkeit in seinen Werkzeugkasten aufnehmen. Seiner Identität jedoch nicht unbedingt das Kleidungsstück "Wissenschaftler" anziehen. Die Verkürzung greift eben leider viel zu oft auch zu kurz.

Lasst uns unsere Meinungen unters Mikroskop legen und gegen den aktuellen Stand des Wissens prüfen.

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