Tränen am Morgen

Noch sind die Tränen nicht ganz trocken.

Vor der offenen Tür fällt der Regen.

Tropfen trommeln leise auf dem Kunststoffdach über dem Katzenauslauf vor dem Fenster neben meinem Schreibtisch.

Kessy sitzt auf dem obersten Brett. Beobachtet den Garten.

Ich sitze auf dem Schreibtischstuhl. Beobachte die Katze.

Ich blicke auf das Bild meiner Mutter. Lese ihre Trauerkarte. Lese die Daten ihres Lebens.

Geburt.

Tod.

Tränen suchen sich ihren Weg zum Kinn.

Ich halte das Tablet. Gerade habe ich noch gelesen. Ein Buch über "Copywriting". Darüber, wie man gute Werbetexte schreibt. Ein Kapitel über eine Anzeige für Chivas Regal zum Vatertag.

Mein Blick geht zum Bild meines Vaters über meinem Schreibtisch. Schwarz-weiß, eine Pfeife im Mund und ein warmes Lachen um die Augen.

Tränen suchen sich ihren Weg zum Kinn.

Sven, ich kann Dir keinen Kuß mehr geben, aber wir sehen uns im Himmel, da geht es dann wieder!

steht auf einem Zettel, der in den Bilderrahmen geklemmt ist.

Mein Vater hatte diese Worte an mich auf ein Stück eines alten Briefumschlags geschrieben. Die raue Kante an einer Seite zeigt, wo er das Papier - so wie er es immer gemacht hat - mit dem Lineal abgetrennt hatte.

Seine letzte Nachricht an mich in der Mappe mit allen Unterlagen zu seinem Tod. Die Auswahl der Lieder bei der Trauerfeier. Seine letzte Botschaft, die er den Menschen die er zurückgelassen hat, noch zukommen lassen will. Selbst seine Traueranzeige war gesetzt, gestaltet und auf einem USB-Stick gespeichert.

Tränen suchen sich ihren Weg zum Kinn.

Im Katzenauslauf sitzt Kessy noch immer auf dem oberen Brett. Geschützt vor dem Regen und putzt sich. Ihre Ohren zucken. Kessy ist die Katze meiner verstorbenen Mutter.

"Na Maus, was hörst Du?"

Mit großen Eulenaugen blickt sie zu mich an. Piké, einer der Kater, springt auf das obere Brett. Er wird prompt von Kessy verjagt. Der schwarze Kater kommt herein, klettert auf meine Schulter.

Ich blicke zum Bild meiner Mom, zu ihrer Trauerkarte.

Es wäre umso trauriger,
wäre es nicht so traurig

steht auf der Karte. Wahre Worte.

Tränen suchen ihren Weg zum Kinn.

Ulricht Döring - geliebter Vater, verstorben 2015