Menschliche Bücher: Vorurteile abbauen
Schwarz. Obdachlos. Bipolar. Bulimisch. Arbeiterkind. Fünf menschliche Bücher. Fünf Gespräche. Fünf Gelegenheiten, Vorurteile auszusprechen und aus der Welt zu räumen. Zumindest aus meinem Kopf.
Human Library
Die “Human Library” habe ich über meine bessere Hälfte kennengelernt und heute zum zweiten Mal besucht.
Kurz umrissen ist es ein spannendes Konzept, das darauf abzielt, Vorurteile abzubauen und den Dialog zwischen Menschen zu fördern.
Das Projekt wurde ursprünglich, glaube ich, im Jahr 2000 in Dänemark ins Leben gerufen.
Das Prinzip der Human Library ist so einfach wie wirkungsvoll:
Statt Bücher auszuleihen, können Besucher sich mit “menschlichen Büchern” austauschen. Diese “Bücher” sind Menschen, die in ihrem Leben Vorurteilen oder Stereotypen ausgesetzt waren, sei es aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Religion, sexuellen Orientierung, Behinderung oder anderer Merkmale.
Die “Leser” haben die Möglichkeit, Fragen zu stellen und mehr über die Erfahrungen und das Leben dieser Menschen zu erfahren.
Soweit so einfach.
Die Bücher
Keine Wohnung, kein Ausweis, freie Entscheidung
Hast du schon mal ernsthaft, offen und ungestört mit einem Obdachlosen gesprochen? Wie er auf der Straße gelandet ist? Wie es tatsächlich mit Gewalt zwischen Obdachlosen ist? Ob er gesehen wird? Oder dass Hamburg inzwischen das Betteln im Nahverkehr verboten hat?
Wie es ist, ohne Ausweis zu leben? Und trotzdem zu arbeiten und im Ehrenamt zu unterstützen? Das eigene Hab und Gut in einem Kinderwagen bei sich zu haben?
Spannend, unvorstellbar. Für mich fernab von irgendeiner Lebensrealität, die ich mir für mich vorstellen könnte. Für ihn scheint es zu passen. Unglaublich spannend, dieser kurze Schlaglicht-Einblick.
Schwarz in Deutschland, promoviert
Wie ist es, als Schwarzer (er bezeichnet sich selbst so, will das so) in Deutschland zu leben? Erlebt man Diskriminierung? Und wie geht er damit um? Wie ist es, eine liebende, schwäbische Schwieger-Oma zu haben, die ihn annimmt und liebt und trotzdem den Schokokuss nicht Schokokuss nennt, sondern so, wie sie ihn immer genannt hat? Hat er Angst um seine Kinder in der aktuellen politischen Lage? Wie ist das für die schwäbische Ehefrau (Hinweis: Deutlich irritierter als für “mein Buch”)?
Ich durfte einen sehr fröhlichen, lebensbejahenden und unglaublich sympathischen Menschen kennenlernen. Einen Menschen, der sehr klar darin ist, was er an sich heranlässt und wo er sich abgrenzt.
Respekt. Ein tolles Buch.
Arbeiterkind, gestandene Frau mit einigen Karrieren
Die Tochter, die nach der Realschule erstmal Geld verdienen soll. Gymnasium? Ein Studium gar? Oder auch nur die Fremdsprachenschule? Das braucht man doch nicht. Nein, der umgeworfene Lebenslauf kommt später. Das Gefühl, als Mensch zweiter Klasse (in Berufsschule und späterem Studium) angesehen zu werden, bleibt.
Trotz erster Karriere und Führungsverantwortung. Das eigene Gefühl, sich beweisen zu müssen, kann ich nachempfinden. Trotz eigentlich mehrerer erfolgreicher “Karrieren” auf einem überhaupt nicht gradlinigen Lebensweg. Da kamen noch die Karriere als Autorin, als Pädagogin, ein Studium, Mutter, und, und, und…
Für mich spannend, weil ich mich selbst reflektieren kann. Gespräche darüber, sich noch immer, trotz Erfolg und Rückmeldung, wie ein Hochstapler zu fühlen.
Anstöße für Gedanken. Ich bin dankbar für den Blick hinter einen Menschen.
Unjudge someone
Bipolar, therapiert und auf dem Weg zum Therapeuten
Therapiert, doch immer bipolar? Was wie ein Suchtkranker immer auch suchtkrank bleibt? Was genau ist eigentlich bipolar? Wie viele Ausprägungen? Wie lebt es sich damit? Menschen in der manischen Phase kennenlernen und in der depressiven Phase verlieren?
Ein charmanter und smarter junger Mensch.
Für mich spannend, dass es mehrere Arten/Ausprägungen von bipolar gibt. Und wie “mein Buch” sich durch seine (Zitat) Störung nicht definiert, aber eben doch äußert, ohne diese wäre er nicht, was er heute ist.
Essgestört? Sieht doch gar nicht so aus…
Don’t judge a book by its cover.
(Frank ’n Furter, Rocky Horror Picture Show)
Eine junge Frau, gut aussehend, wach, fit, gesund. So kommt “das Buch” zu mir an den Platz.
Essstörung stand an der Pinnwand, an der ich mir ein Buch ausleihen konnte. Ich, unbedarft und einerseits leer im Kopf, andererseits eine magere Person mit dünnen Ärmchen und Beinen, werde am Tisch eines Besseren belehrt. Noch ohne Worte.
Essstörung. Das hätte ich der jungen Dame mir gegenüber nicht abgenommen, wären wir nicht in diesem Setting.
Essstörung. Ja, aber: Was genau? Wie? Wie kommt es dazu?
Ein Gespräch, das mir noch länger nachgeht. Es geht um Suchtverhalten. Das Gefühl, etwas spüren zu wollen. Unabhängig von der Ausprägung. Ihres. Meines.
Fazit
Wieder einmal ein ruhiger, spannender und erkenntnisreicher Tag. Wer die Human Library erleben kann, sollte es tun.
Eine uneingeschränkte Empfehlung.